Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit

Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit gehören zweifellos zu den faszinierendsten Bildzeugnissen der gesamten germanischen Kulturgeschichte. Mit ihrem Auftreten im Laufe des späten 5. Jahrhunderts beginnt ein neues, bildfreudigeres Zeitalter. Im Gegensatz zu den vorangegangenen, äußerst bildarmen Epochen der Vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit finden sich nun – den Goldbrakteaten zum Dank – erstmals figürliche Darstellungen in hoher Qualität und großer Anzahl.

Der Ursprung dieses Wandels lässt sich eindeutig im Süden verorten: Es ist Rom, die mächtigste und langlebigste Supermacht in der Geschichte Europas. Über Jahrhunderte war das Römische Reich den germanischen Stämme ein rätselhafter und zugleich inspirierender Nachbar, dem sich niemand entziehen konnte. Der Einfluss dieses Riesenreiches war in jeder Hinsicht überwältigend und sogar in den abgelegensten Regionen der germanischen Welt spürbar. Die römische Kultur übernahm für die Germanen spätestens mit Beginn der Kaiserzeit im 1. Jahrhundert jene Vorbildfunktion, die zuvor die Kelten für viele Jahrhunderte innehatten.

Der für die germanische Kunst so charakteristische Tierstil ist nur eines von vielen Beispielen für Dinge, die sich direkt aus römischen und orientalischen Vorbildern heraus entwickelt haben. Ohne die Massen römischer Güter, die in den Norden strömten, hätte es weder den Tierstil noch die Goldbrakteaten jemals gegeben. Tatsächlich sind die Goldbrakteaten ein Paradebeispiel dafür, wie stark die römische Welt die Germanen durch ihre Bildwelt beeinflusst hat. Am Anfang standen dabei römische Medaillons (Gedenkmünzen aus Gold), die im 3. und 4. Jahrhundert durch Handel, Plünderung, Soldzahlungen oder aber als Geschenke oder sogar Souvenirs in den Norden gelangten (siehe Abb. 1a).

Diese exotischen Objekte wurden zweifellos als etwas sehr Besonderes und Kostbares angesehen. Es gab im Norden schlicht niemanden, der im Stande gewesen wäre Objekte von solcher Qualität und solchem Detailreichtum herzustellen. Abgesehen von dieser technischen Dimension haben die Goldbrakteaten bei ihren germanischen Betrachtern aber offensichtlich etwas ausgelöst, was ihre Vorstellungskraft anregte. Denn es waren nicht die römischen Kaiser, welche sie in den Brakteaten-Bildern wiedererkannten, es war etwas anderes.

Untergang eines Imperiums – Aufstieg einer neuen Welt

Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert versiegte der Nachschub an neuen Medaillons und Münzen vollständig. Es gab einfach keine Institution oder Behörde mehr, die solche Dinge in Auftrag hätte geben können. Das Ausmaß des Zusammenbruchs römischer Kultur und Gesellschaft muss unvorstellbar gewesen sein. Ein zivilisatorischer Zusammenbruch von solcher Dimension sollte es erst wieder eintausend Jahre später mit der Zerstörung der altamerikanischen Welt durch den europäischen Kolonialismus geben.

Die Reichtümer des Römischen Reiches wurde zur Beute einfallender Germanenstämme wie etwa der Goten, Franken und Alemannen. Nordeuropa jedoch war de facto von den alten Handelswegen und Netzwerken abgeschnitten. Und hier wird die Sache besonders interessant: da der Bedarf an solch kostbaren Produkten im Norden ungebrochen hoch war, begannen die örtlichen Handwerker schließlich, die Medaillons auf ihre ganz eigene Art und Weise nachzuahmen (siehe Abb. 1b).

Von Römischen Medaillons zu den Goldbrakteaten.
Abb. 1: a. Medaillon des Flavius Valens (364–378), b. Medaillon-Imitation IK 3 aus Åk (Norwegen), c. A-Brakteat IK 299 aus Maglemose (Dänemark).

Anfangs orientierten sich die Nachahmungen noch stark an ihren Vorbildern, wenngleich auch die Verarbeitungsqualität und der Detailgrad nicht an die Originale heranreichte. Mit der Zeit jedoch begannen die nordischen Handwerker neue, ganz eigene Details hinzuzufügen, die eindeutig auf eine germanische Uminterpretation der Motive schließen lassen. Ein solches Detail findet sich etwa auf dem Brakteaten IK 299 aus Maglemose in Dänemark (Abb. 1c). Dort erkennt man, dass die Figur einen Kolbenarmring um den Hals trägt. Bei diesen Armringen handelt es sich um ein weit verbreitetes germanisches Machtsymbol, das während der Spätantike und auch darüber hinaus getragen wurden.1 Ein solcher Kolbenarmring gehörte etwa zur Grabausstattung Childerichs, jenes letzten heidnischen Frankenkönigs, der 481 oder 482 just zur Zeit der Brakteaten-Produktion verstarb. Das ungewöhnliche an der Darstellung auf dem Brakteaten aus Maglemose ist jedoch die Tatsache, dass der Armring dort als eine Art Anhänger um den Hals getragen wird und nicht – wie sonst üblich – um das (ebenfalls abgebildete) Handgelenk.

Sehr wahrscheinlich haben die Leute des Nordens die seltsamen Motive der Medaillons immer schon auf ihre eigene Art und Weise gedeutet und sich verständlich gemacht. Aber erst dank der aktiven Umgestaltung dieser Bilder durch germanische Handwerker öffnet sich für uns ein ungeahntes Fenster in die Geisteswelt des Nordens.

Das Pferd und der Zauberer

Die Erforschung der Goldbrakteaten wurde im Besonderen von einer Person vorangetrieben: Karl Hauck. Wie kein Zweiter prägte er durch seine jahrzehntelange intensive Arbeit die Brakteaten-Forschung und legte damit den Grundstein für die heutzutage sehr positive Forschungslage.

Eines der verbreitetsten Brakteaten-Motive zeigt ein Pferd, hinter dessen Rücken ein übergroßes menschliches Haupt hervorragt. Diese sogenannten C-Brakteaten finden sich überall in der germanischen Welt, haben jedoch ein klares Schwerpunkgebiet auf den dänischen Inseln und Südschweden. Dank der großen Vielfalt dieser C-Brakteaten, auf denen neben Pferd und Haupt meist noch weiteren Symbole, Runen und Figuren vorkommen, konnte Karl Hauck eine umfassende Interpretationsmethode entwickeln.

Im Wesentlichen verknüpft er das große Haupt auf den C-Brakteaten mit Wodan-Odin, der ein verwundetes Pferd durch seine speziellen Fähigkeiten heilt. Ein klarer Bezug also zu dem Zweiten Merseburger Zauberspruch, der Wodans bei der Heilung von Balders gestürztem Pferd zeigt. Zur Untermauerung seiner These verweist er auf zahlreiche Details und Variationen dieses Motivs. Ein häufiger Begleiter ist etwa ein Vogel der sich meist direkt in unmittelbarer Nähe des großen Hauptes befindet und von Hauck als ein Symbol für die die zwei Raben Odins gedeutet wird (siehe Abb. 2c). Auf manchen Brakteaten, wie etwa IK 133 aus Westschweden, sind sogar tatsächlich zwei Vögel gleichzeitig abgebildet. Nach Hauck ist es bloß dem geringen Platz auf den im Schnitt unter 30 mm großen Brakteaten geschuldet, dass nur ein Vogel symbolhaft dargestellt wird.2 Ein weiterer wichtiger Baustein in seiner Theorie sind Motiv-Varianten, in welcher das Pferd in einer offensichtlich taumelnden oder stürzenden Bewegung gezeigt wird. Auf IK 33 etwa ist das Pferd mit verdrehten Gliedern und heraushängender Zunge dargestellt, während der Reiter sichtlich schockiert und unglücklich drein blickt (siehe Abb. 2a). Ein klarer Hinweis auf einen Unfall also.

Darüber hinaus gibt es ein weiteres einmaliges Brakteaten-Motiv, das eine weitere Szene der Handlung zu zeigen scheint. Auf IK 6 aus Års (Nordjütland) erkennt man zwei Personen die sich auf ein gestürztes Pferd zubewegen (siehe Abb. 2b). Die rechte Figur zeigt dabei der anderen, die von einem Vogel begleitet wird, offensichtlich den Weg zum Unfallort. Erkennt man hier also tatsächlich Balder wie er Wodan zu seinem verletzten Pferd führt?

Das Pferd und der Zauberer
Abb 2: a. IK 33 aus dem British Museum, b. IK 6 aus Års (Dänemark), c. IK 58 von der Insel Fünen (Dänemark).

Die Verknüpfung historischer Bildzeugnisse mit literarischen Quellen ist immer ein sehr heikles Thema, das man nur mit großer Vorsicht angehen sollte. Stünden uns nur die Altnordischen Quellen zur Verfügung, wäre der zeitliche Abstand für einen überzeugenden Vergleich einfach zu groß: Ganze 700 Jahre und tausende Kilometer trennen die Goldbrakteaten von den altnordischen Überlieferungen Islands! Zu unserem Glück müssen wir einen solch großen Abstand aber überhaupt nicht überbrücken, denn es gibt eine Quelle, die deutlich näher an den archäologischen Funden liegt. Es ist der schon genannte Zweite Merseburger Zauberspruch, der etwa 300 Jahre nach der Hochzeit der Goldbrakteaten-Produktion erstmalig niedergeschrieben wurde. Der Ursprung dieses Zauberspruchs liegt zweifelsohne in den spätheidnischen Traditionen der Altsachsen. Da diese aber bereits im späten Verlauf des 8. Jahrhunderts gewaltsam christianisiert wurden, muss der Pferdeheilungs-Mythos spätestens aus dem 8. Jahrhundert stammen. Auch die räumliche Distanz ist bedeutend geringer als zu den altnordischen Quellen. C-Brakteaten mit dem Pferd und dem Haupt finden sich an vielen Orten der altsächsischen Welt. Ein Exemplar (IK 132) stammt sogar aus nur 40 km Entfernung von Merseburg, jenem Ort also an dem die Zaubersprüche wiederentdeckt wurden. Der zeitliche und räumliche Abstand des Mythos zu den Goldbrakteaten ist also bedeutend geringer im Vergleich zu den altnordischen Quellen. Jedoch, wie allen bekannt seien sollte: Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Beweise! Gibt es also noch mehr Anhaltspunkt die für eine Verknüpfung der Brakteaten zu dem Pferdeheilungs-Mythos sprechen? In der Tat, die gibt es!

Zu den überzeugendsten Hinweisen gehört eine kleine Gruppe von Brakteaten, auf denen sich das Wort hohaR in Runenschrift wiederfindet (vgl. Abb. 2c). Im Gegensatz zu den allermeisten Runeninschriften auf Brakteaten, gibt es in diesem Fall tatsächlich einen gewissen Konsens in der Forschungen, hohaR mit “der Hohe” zu übersetzen,3 also einem sehr geläufigen und zudem relativ alten Beinamen Wodans-Odins.4 Daneben gibt es natürlich auch eine große Anzahl runischer Zauberformeln und Symbolen, die auf sehr vielen C-Brakteaten zu finden sind. Abgesehen von der Swastika, die häufig zwischen dem Pferd und dem großen Haupt auftaucht (Abb. 3a), sind besonders die runischen Formeln alu (ᚨᛚᚢ) und laukaR (ᛚᚨᚢᚲᚨᛉ) hochinteressant. Während es das hohe Alter und die vielschichtigen Interpretationen der Swastika äußerst schwierig machen, das Symbol auf eine bestimmte Bedeutung einzugrenzen, deutet bei den alu-laukar-Formeln vieles in Richtung heilungsmagischer Praktiken. Laukar5 – zu finden etwa auf dem Brakteaten IK 8 aus Års (Abb. 3b) – verweist auf den Ackerlauch, die Wildform des heute in keinem Suppengrün fehlenden Porrees oder Winterlauchs. Die Lauchpflanze hat eine sehr lange Geschichte magischer- und medizinischer Verwendung in Nord- und Westeuropa.6 Die Nennung dieses Pflanzennamens auf Brakteaten kann also schwerlich anders als im Kontext einer Heilungs- oder Schutzfunktion gesehen werden. Ähnliches gilt für die alu-Formel, welche die am häufigsten überlieferte Runenzauberformel überhaupt ist. Auch wenn die genaue Etymologie des Begriffes unklar ist, so besteht jedoch kein Zweifel an der Schutzfunktion und der unheilabwehrenden Wirkung dieser Zauberformel.7

Schließlich gibt es noch ein weiteres spannendes Indiz, welches sich auf vielen der C-Brakteaten finden lässt: eine Art Sprechgestus. Das große Haupt ist dabei für gewöhnlich mit einem geöffneten Mund dargestellt, der sich unmittelbar am Ohr des Pferdes befindet (vgl. Abb. 3a). In einer Variation des Motivs auf dem C-Brakteaten IK 600 kann man sogar ganz deutlich Linien erkennen, die aus dem Mund in Richtung des Pferdeohres laufen (Abb. 3c). Diese Symbolik lässt sehr deutlich darauf schließen, dass die Figur bewusst mit dem Pferd spricht oder gar singt, was sehr gut mit dem Inhalt des Zweiten Merseburger Zauberspruchs übereinstimmen würde. Betrachtet man nun also all diese einzelnen Hinweise zusammen, so kann man doch mit einiger Sicherheit sagen, dass die C-Brakteaten tatsächlich eng mit Wodans Pferdeheilungsmythos zusammenhängen!

Das Pferd und die heilenden Runen
Abb 3: a. IK 12 aus Alingsås (Schweden) – b. IK 8 aus Års (Dänemark) – c. IK 600 aus dem Odermündungsgebiet.

Dank der großartigen Arbeit von Karl Hauck und zahlreichen anderen Kollegen verfügen wir heute über einen umfangreichen illustrierten Katalog der Goldbrakteaten, der kostenlos online abgerufen werden kann (siehe Links weiter unten), sowie über viele weitere wichtige Publikationen zu unterschiedlichen Fragestellungen.8 Dieser Artikel soll einen ersten Überblick über die Goldbrakteaten verschaffen und die Grundlage für zukünftige Beiträge über verschiedene Aspekte dieser spannenden Fundgruppe liefern.


Katalog

K. Hauck (Hrsg.), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit 1 (München 1985).
- Einleitung
- Ikonographischer Katalog 1: Text
- Ikonographischer Katalog 1: Tafeln

K. Hauck (Hrsg.), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit 2 (München 1986).
- Ikonographischer Katalog 2: Text
- Ikonographischer Katalog 2: Tafeln

K. Hauck (Hrsg.), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit 3 (München 1989).
- Ikonographischer Katalog 3: Text
- Ikonographischer Katalog 3: Tafeln

Literatur

  • Axboe 2004
    M. Axboe, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Herstellungsprobleme und Chronologie (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 38). Berlin/New York 2004.

  • Bruder 1974 R. Bruder, Die germanische Frau im Lichte der Runeninschriften und der antiken Historiographie. (Berlin, New York 1974).

  • Düwel/Nowak 2011
    K. Düwel/S. Nowak, Die semantisch lesbaren Runeninschriften auf Goldbrakteaten. In: W. Heizmann/M. Axboe (Hrsg.), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde. RGA Ergbd. 40 (Berlin, New York 2011) 375–474.

  • Hauck 2011
    K. Hauck, Die Bildformeln der Goldbrakteaten in ihren Leitvarianten (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LV). In: W. Heizmann/M. Axboe (Hrsg.), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde. RGA Ergbd. 40 (Berlin, New York 2011) 61–152.

  • Heizmann 1987
    W. Heizmann, Bildformel und Formelwort. Zu den laukar-Inschriften auf Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. In: Runor och runinskrifter. Föredrag vid Riksantikvarieämbetets och Vitterhetsakademiens symposium 8–11 september 1985 (Stockholm 1987) 145‒153.

  • Heizmann/Axboe 2011
    Wilhelm Heizmann, Morten Axboe (Hg.), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde (Ergänzungsbände zum RGA 40). Berlin/New York 2011.

  • Müller 2011
    G. Müller, Von der Buchstabenmagie zur Namenmagie in den Brakteateninschriften. n: W. Heizmann/M. Axboe (Hrsg.), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde. RGA Ergbd. 40 (Berlin, New York 2011) 317–374.

  • Pesch 2007
    Alexandra Pesch, Thema und Variation – Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit (Ergänzungsbände zum RGA 36). Berlin/New York 2007.

  • Werner 1980
    J. Werner, Der goldene Armring des Frankenkönigs Childerich und die germanischen Handgelenkringe der jüngeren Kaiserzeit. Frühmittelalterl. Stud. 14, 1980, 1–49.


  1. Vgl. Werner 1980. ^
  2. Vgl. Hauck 2011, 68–70. ^
  3. Vgl. Müller (2011, 321) und Düwel/Nowak (2011, 471–473). ^
  4. Die Hávamál (“Sprüche des Hohen”) beispielsweise gehören zu den ältesten Werken der Eddischen Dichtung und datieren spätestens in das 10. Jahrhundert zurück, vermutlich sind sie in Teilen jedoch weit älter. ^
  5. Auf modernem Isländisch wird die Pflanze noch heute “laukar” genannt. ^
  6. Vgl. Heizmann 1987. ^
  7. Bruder 1974, 22–26. ^
  8. Bspw. Axboe 2004, Heizmann/Axboe 2011 und Pesch 2007. ^

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