Fimbulwinter und die Klimakatastrophe der Völkerwanderungszeit

Als sich im Jahre 536 plötzlich die Sonne über Europa verdunkelte, näherte sich der Kontinent dem Ende einer äußerst gewalttätigen und verheerenden Epoche: der Völkerwanderungszeit. Die scheinbar nicht enden wollenden Wanderungen und Kriegszüge germanischer Stammesverbände hatten das Weströmische Reich und seine Kultur vernichtet und die Landkarte Europas für immer verändert. Die Westgoten, Sueben und Franken hatten die Westprovinzen des Reiches unter sich aufgeteilt; den nördlichen Teil, die Provinzen Britanniens, hatten sich nordseegermanische Verbände unter Führung der Angeln und Sachsen einverleibt. Das unter Theoderich dem Großen in Italien errichtete Ostgotenreich befand sich mitten in einem Krieg mit dem oströmischen Kaiser Justinian I. Dieser hatte nur zwei Jahre zuvor mit seinem Feldherren Belisar das Reich der Vandalen in Nordafrika zerschlagen und erhoffte sich nun durch die veränderte strategische Lage auch die Ostgoten aus Rom und Ravenna vertreiben zu können. Kurzum: Die Völker Europas hatten bereits eine unbeschreibliche Menge Unheil hinter sich. Doch das, was sich 536 am Horizont anbahnte, sollte alles andere buchstäblich in den Schatten stellen.

Schon lange war in der Forschung bekannt, dass etwas sehr schwerwiegendes vorgefallen sein musste. Bereits die spätantiken Geschichtsschreiber berichteten von sehr niedrigen Temperaturen und Schneefall im Sommer. Die Sonne habe das ganze Jahr über durch einen allgegenwärtigen Nebel nur so schwach wie der Mond geschienen, wodurch es in der Folge zu vielen Missernten, Hungersnöten und Seuchen gekommen sein soll. Auch die Untersuchungen von auf das Jahr genau datierbaren Baumringen in den 1990ern, zeigten für das Jahr 536 ein abnormal geringes Wachstum und auch in den folgenden Jahre schien sich die Lage kaum wieder normalisiert zu haben. Einem Forscherteam unter Leitung von Michael Sigl gelang es dann 2015 Eisbohrkerne aus der Antarktis und Grönland mit der Baumring-Chronologie zu synchronisieren.1 Ihre Untersuchung kam zu dem Schluss, dass es im Winter 535536 zu einer gewaltigen vulkanischen Eruption gekommen sein muss, die sich vermutlich in der nördlichen Hemisphäre ereignet hat. Doch die Daten zeigten noch mehr: Nur vier Jahre später muss es zu einer weiteren großen Eruption gekommen sein, die das sich langsam wieder normalisierende Klima erneut in eine tiefe Depression stürzte. Weitere Missernten und Hungersnöte sind die Folge. Sogar bis nach China scheinen die Ereignisse Auswirkungen gehabt zu haben. Dort ist in der betreffenden Zeit ebenfalls von Ernteausfällen und Schnee im Sommer die Rede.

Fimbulwinter

Die Zeit um 540 gilt heute in der Forschung als die kälteste Periode der letzten 2300 Jahre. Und als sich wohl niemand in Europa mehr vorstellen konnte, dass es noch schlimmer kommen könnte, bricht im Jahre 541 die sogenannte Justinianische Pest aus. Innerhalb weniger Monate breitet sie sich von Ägypten nach Konstantinopel über den gesamten Mittelmeerraum aus und erreicht in den kommenden Jahren auch die westlichen und nördlichen Teile Europas. Wie viele Millionen Menschen in den folgenden Jahren allein wegen dieser Pest gestorben sind, lässt sich heute mangels historischer Quellen nicht mit Sicherheit sagen. In den nachfolgenden zwei Jahrhunderten jedoch sollte die Seuche immer wieder aufs Neue ausbrechen und insgesamt schätzungsweise 50 Millionen Menschenleben fordern.2 Bedenkt man, dass die gesamte Weltbevölkerung in diesen Jahrhunderten nur etwa 200 Millionen Menschen umfasste, versteht man sofort, warum die Justinianische Pest als eine der tödlichsten Seuchen aller Zeiten gilt.

Island: der Ursprung des Unheils?

Im Laufe dieses Jahres nun ist einem Forscherteam um den Historiker Michael McCormick und dem Glaziologen (d.h. Gletscherforscher) Paul Mayewski wohl möglich ein weiterer Durchbruch gelungen. Bei der Untersuchung eines Eisbohrkerns aus den Schweizer Alpen mittels einer verbesserten hochauflösenden Analysemethode konnten vulkanische Glas-Partikel festgestellt werden, die chemisch denen aus grönländischen Eisbohrkernen ähneln und mit dem Vulkanausbruch von 536 in Verbindung gebracht werden.3 Auf einer kleinen Konferenz an der Harvard University4 legte das Team nun nach: Demnach sollen die gefundenen Partikel große Übereinstimmungen mit Gesteinsproben eines Vulkans auf Island aufweisen.5 Dieser sei nach Aussage der Eisbohrkern-Analyse im Frühjahr 536 erstmalig in einer gewaltigen Eruption ausgebrochen. Zwei weitere, ebenfalls starke Ausbrüche sollen in den Jahren 540 und 547 gefolgt sein.

Eruptionen auf Island
Vulkanausbrüche auf Island im 20. und 21. Jahrhundert (Grafik:Wissensplattform “Erde und Umwelt”)

Eine katastrophale Verkettung vulkanischer Eruptionen also, die von Island ausgehend Jahre ohne Sommer, Missernten, Hungersnöte und letztlich auch Seuchen über das Europa der späten 530er und 540er Jahre brachten?6 Es wäre keine allzu große Überraschung. Die Liste der Vulkanausbrüche auf Island in den letzten Jahrhunderten ist lang, sehr lang. Da wäre etwa der Katla, einer der aktivsten Vulkane der Insel: Aus seinen zahlreichen Vulkanspalten, wie etwa der Eldgjá (zu deutsch: Feuerschlucht), ist es praktisch in jedem Jahrhundert seit Menschen die Insel bewohnen zu einem Ausbruch gekommen. Die letzte große Eruption fand im Jahre 1918 statt und erzeugt eine etwa 18 km hohe Eruptionssäule. Noch aktiver ist indes der Hekla, der im Mittelalter sogar als das Tor zur Hölle angesehen wurde. Fast jeder Bewohner Islands in den letzten tausend Jahren dürfte einen seiner zahlreichen Ausbrüche miterlebt haben. Die sogenannte Hekla 3 Eruption, die vor etwa 3000 Jahren stattgefunden hat, stellte mit ihre Sprengkraft und der Masse an ausgeworfenem Gestein wohl selbst den berühmten Ausbruch des Vesuv bei Pompeij im Jahre 79 in den Schatten. Unvergessen dürfte für die meisten Europäer auch der letzte Ausbruch des Eyjafjallajökull im Jahr 2010 sein, der zu großen Störungen des Flugverkehrs auf dem Kontinent führte, aber auch für einige spektakuläre Sonnenuntergänge sorgte.

Europa versinkt in Finsternis

Wo auch immer der Ausbruch stattfand, fest steht, dass die Ereignisse den endgültige Untergang der antiken Welt einläuteten. Die durch den oströmischen Kaiser Justinian I. begonnene Restauration des Westreiches wurde endgültig aufgegeben. Der Kaiser – selbst beinah an der Pest gestorben – beendete seine expansive Politik und widmete sich fortan mehr den internen Angelegenheiten seines Reiches. Im restlichen Europa begann in den folgenden Jahrzehnten nach dem Tod der letzten großen spätantiken Geschichtsschreiber Jordanes, Cassiodor, Prokopios und Gregor von Tours ein literarisch dunkles Zeitalter. Die Völkerwanderungszeit endete mit dem Einfall der Langobarden nach Oberitalien im Jahre 568 und dem Auftauchen der Slawen in den einst ostgermanischen Gebieten. Beiden Völkerschaften kam wohl das durch die katastrophalen Ereignisse entstanden Machtvakuum sowie die großflächige Entvölkerung ganzer Landstriche zugute.

Besonders in Nordeuropa müssen die Auswirkungen dramatisch gewesen sein. So legen etwa Simulationen der vulkanischen Aktivitäten nahe, dass die negativen klimatischen Auswirkungen in Nordeuropa sogar noch größer und dramatischer gewesen sein müssen, als dies im Raum südlich der Alpen der Fall war.7 Der schwedische Archäologe Bo Gräslund hat diese Klimakatastrophe mit dem archäologisch großflächig nachweisbaren Rückgang von Siedlungen in ganz Skandinavien während des 6. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht und dabei untersucht, welchen kulturellen Einfluss das auf die Menschen gehabt haben könnten. Er hat dabei auf die Ähnlichkeiten des in der altnordischen Literatur8 überlieferten Mythos vom Fimbulwinter mit den Ereignisses der 530er und 540er Jahre hingewiesen.9 Snorri etwa beschreibt den Fimbulwinter als eine Kälteperiode von drei aufeinanderfolgenden harten Wintern, die ohne Sommer aufeinander folgten und letztlich den Beginn der Ragnarök einläuten. Nach Gräslund könnte der Mythos von den realen Ereignissen des 6. Jahrhunderts inspiriert oder zumindest geprägt worden sein. Für Anders Andrén könnte im Verdunkeln der Sonne und den daraus folgenden katastrophalen Konsequenzen sogar der Grund für das Verschwinden der zuvor sehr dominanten Sonnensymbolik in der nordischen Kunsttradition liegen.10

Monumentale Vulkanausbrüche auf Island, die ganz Europa in eine düstere Dekade des Sterbens und des Vergehens, aber auch des Neubeginns treiben und dabei tiefe Spuren in den Sagen des Nordens hinterlassen; in eben jenen Sagen die wiederum ausgerechnet auf Island aufgezeichnet und so vor dem Vergessen bewahrt wurden… Sollte sich diese Theorie bestätigen, würde dies einmal mehr unterstreichen, welch großen Einfluss auf Klima und Kultur diese sagenumwobene Insel des Nordens, dieser eisige Fels im Meer, auf uns alle hat. Damals wie heute.


Literatur


Andrén 2014: Tracing Old Norse Cosmology. The world tree, middle earth, and the sun in archaeological perspectives. Vägar till Midgård 16 (Lund 2014).

Gräslund 2008: Fimbulvintern, Ragnarök och klimatkrisen år 536–537 e. Kr. Saga och Sed 2007, 93–123.

Gräslund & Price 2012: Twilight of the gods? The ‘dust veil event’ of AD 536 in critical perspective. Antiquity 86 (332), 2012, 428–443.
https://doi.org/10.1017/S0003598X00062852

Helama et al. 2018: Volcanic dust veils from sixth century tree-ring isotopes linked to reduced irradiance, primary production and human health. Scientific Reports 8 (1339), 2018, 1–12.
https://www.nature.com/articles/s41598-018-19760-w

Loveluck et al. 2018: Alpine ice-core evidence for the transformation of the European monetary system, AD 640–670. Antiquity 92 (366), 2018, 1–15.
https://doi.org/10.15184/aqy.2018.110

Sigl et al. 2015: Timing and climate forcing of volcanic eruptions for the past 2,500 years. Nature 523, 2015, 543–549.
https://www.nature.com/articles/nature14565

Toohey et al. 2016: Climatic and societal impacts of a volcanic double event at the dawn of the Middle Ages. Climatic Change 136, 2016, 401–412.
https://doi.org/10.1007/s10584-016-1648-7

Widgren 2013: Climate and causation in the Swedish Iron Age: learning from the present to understand the past. Geografisk Tidsskrift 112, 2012, 126–134.
https://doi.org/10.1080/00167223.2012.741886


  1. Sigl et al. 2015. ^
  2. http://www.shh.mpg.de/236943/justinianplaguegenom ^
  3. Loveluck et al. 2018. ^
  4. Übersichtsprogramm der Konferenz. ^
  5. Vgl. Vortrag Kurbatovs: YouTube-Video ^
  6. Vgl. dazu: Helama et al. 2018. ^
  7. Dazu: Toohey et al. 2016 sowie Widgren 2013. ^
  8. So in Vafþrúðnismál 44 und Gylfaginning 50. ^
  9. Gräslund 2008; Gräslund & Price 2012. ^
  10. Andrén 2014, 183–186. ^

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