Die »Neun edlen Tugenden« – zu kurz gedacht!

Gastbeitrag von Damian Kirchdörfer

In der heutigen Heidenszene gibt es viele Dinge, die dem arglosen Einsteiger als “Alter Weg” oder “Alte Werte” verkauft werden, tatsächlich aber mit den Altvorderen in dieser Form wenig zu tun haben. Ein glänzendes Beispiel dafür sind die sogenannten “Neun edlen Tugenden”. Diese Komprimierung der 164 Hávamál-Strophen auf gerade einmal neun Wörter ist schlicht unvollständig und spiegelt eine stark begrenzte und einseitige Sicht auf die Wertevorstellungen unserer Ahnen wieder. Schaut man sich nämlich die Hávamál genauer an, so findet man doch deutlich mehr als nur neun “Tugenden” bzw. Ratschläge darin. Wie kam also diese Auswahl zustande und wer steckt dahinter? Wieso überhaupt hat man versucht, die inhaltlich anspruchsvollen 164 Strophen auf gerade einmal neun eindeutige Wörter herunterzubrechen? Und warum sollte diese Einzel-Interpretation Allgemeingültigkeit besitzen?

Dahinter steckt wohl das Bedürfnis nach einem Moralkompass, wie man ihn vom Christentum gewöhnt ist. Eine Ähnlichkeit der “Neun Tugenden” zu den “Zehn Geboten” ist nicht zu verleugnen, jedoch hinkt dieser “Ersatz” schon aufgrund der Formulierungen in den Hávamál. Man findet darin keine Vorschriften wie “du darfst nicht”, “du sollst nicht” oder “du musst”. Es sind keine Formen des Imperativs zu erkennen. Vielmehr gibt hier ein weiser Mann (Weisheitsgott) Ratschläge für viele Lebenslagen und Gemeinsituationen. Diesen Ratschlägen Folge zu leisten, steht jedem frei – es droht keine Strafe, sollte man sich nicht danach richten. Als Initiator dieses Konstrukts wird der “Odinic Rite” der 1970er Jahre vermutet. Es gibt keine früheren Erwähnungen in der Geschichte, nur leicht abgeänderte Versionen der “Neun Tugenden” nach dieser Zeit, zum Beispiel von der stark völkisch orientierten US-amerikanischen “Asatru Folk Assembly”.

Die “Neun edlen Tugenden” sind also lediglich eine sehr neuzeitliche Interpretation der Hávamál von Menschen des “Odinic Rite”, die sich diejenigen “Tugenden” herausgepickt haben, die ihnen am Besten in den Kram und in ihre Ideologie passten. So haben es etwa Tugenden wie “Mut” und “Treue” unter die “edlen Neun” geschafft, während Werte wie Vorsicht, Gütigkeit, Respekt und Zurückhaltung, die in viel mehr Strophen eine herausragende Rolle spielen, erst gar nicht erwähnt werden. Darüber hinaus lässt sich “Ehre” als Tugend überhaupt nicht direkt aus den Hávamál-Strophen ableiten. Man könnte höchstens sagen, dass derjenige Ehre hat, der in seinem Leben die Weisheiten der Hávamál als Ganzes beherzigt. Um einen besseren Überblick über die Vielschichtigkeit der Hávamál zu bekommen, habe ich an dieser Stelle einmal versucht, aus jeder Strophe jeweils eine “Tugend” (besser: “Weisheit”) zu extrahieren. Manches wird dem einen weit hergeholt erscheinen, während ein anderer meint, die eine oder andere Tugend käme doppelt unter anderem Namen vor. Aber das ist eben ein Problem, das auch ich mit den sogenannten “Neun edlen Tugenden” habe: Es handelt sich letztlich um eine persönliche Interpretation, die nicht unbedingt meiner Lesart entsprechen oder gar Allgemeingültigkeit besitzen muss. Ich bin nicht Heide, um mir philosophische Schätze wie die Hávamál schluckfertig vorkauen zu lassen. Der Odinic Rite stellt Selbständigkeit als eine der Tugenden auf und nimmt anderen damit die selbstständige Interpretation der Hávamál ab. Ein Widerspruch in sich.

Die folgende Zusammenstellung ist daher nur meine subjektive Verarbeitung und Interpretation und somit zwangsläufig eine Verallgemeinerung, die aber verdeutlichen soll, wie vielfältig (und nicht bloß „neunfältig“) die Hávamál eigentlich ist. Die Weisheiten sind letztlich immer auch im Kontext ihrer jeweiligen Strophen zu betrachten. Die Strophen 138 bis 163 umfassen Odins Runen- und Zauberlied; daraus habe ich keine Tugenden abgeleitet. Strophe 164, der Schlusssatz der Hávamál, war es mir wert sie in der Aufstellung voll auszuschreiben.

Weisheiten aus den Hávamál – “Die Sprüche des Hohen”

Tugenden Verse Anzahl
Achtsamkeit 1,7 2
Bedachtheit 40 1
Bereitschaft 38,74 2
Bescheidenheit 26,78,79 3
Besonnenheit 23 1
Dankbarkeit 35,105,108 3
Einsicht 22,90 2
Erwiderung 42 1
Fleiß 58,59,60 3
Freundschaft 32,119,120,121 4
Fürsorglichkeit 30 1
Gastfreundschaft 2,3,4,67,135 5
Genügsamkeit 10 1
Geselligkeit 47 1
Gewitztheit 5,107,128 3
Gütigkeit 39,49,52,127,136 5
Liebenswürdigkeit 50,66,94 3
Loyalität 34,43,72 3
Mäßigung 19,20,21 3
Menschenkenntnis 18,133 2
Misstrauen 45,84-90,117-118,
122-124
13
Mut 16,48,106 3
Nachsicht 81,109 2
Naturwertschätzung 137 1
Nüchternheit 11,12,13,14 4
Rechtschaffenheit 103 1
Respekt 31,75,115,132,134 5
Ruhm 76 1
Schenkensfreude 41,92 2
Schweigsamkeit 15,62,65,80 4
Selbstbewusstsein 61,64,95 3
Selbstständigkeit 9,126 2
Sittsamkeit 33 1
Unabhängigkeit 36,37,113,114 4
Unbescholtenheit 8,77 2
Vergeltung 46 1
Verständnis 53,73,93,96,97,111 6
Vertrauen 44,110 2
Vorsicht 6,24,25,100-102,131 7
Vorsorge 116 1
Wahrhaftigkeit 51,68,130 3
Wissen 54,55,56,57 4
Wortgewandtheit 27,28,29,104 4
Zeitigkeit 82,98 2
Zielstrebigkeit 129 1
Zufriedenheit 69,70,71,83 4
Zurückhaltung 17,63,112,125 4
Zuversicht 99 1


Zum Abschluss die finale Strophe 164 der Hávamál:

Des Hohen Lied ist gesungen
in des Hohen Halle,
Notwendig für die Erdensöhne,
Unnütz für die Söhne der Jöten.
Wohl dem, der es kann!
Wohl dem, der es kennt!
Lange lebt, der es erlernt!
Heil allen, die es hören!

Ich erhebe keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Vollständigkeit.

Damian Kirchdörfer